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„Kein Weg in die EU ohne echten Fortschritt bei Integrität und Rechenschaftspflicht“

  • iborzilo
  • 15. Okt.
  • 6 Min. Lesezeit

Ein Interview mit Mattia Nelles (DUB) und Martyna Boguslavets (MEZHA) über die COSAC-Reforminitiative


Während die Ukraine weiterhin ihre Souveränität verteidigt, kämpft das Land zugleich an einer anderen entscheidenden Front – gegen die Korruption. Die Revolution der Würde legte den Grundstein für diese Transformation, getragen von Bürgerinnen und Bürgern, Expertinnen und Experten sowie der Zivilgesellschaft.


Um sicherzustellen, dass die Fortschritte der Ukraine international sichtbar, verstanden und weiter gestärkt werden, haben sich das Deutsch-Ukrainische Büro (DUB) und MEZHA in der Continuing Successful Anti-Corruption (COSAC) Reform Initiative zusammengeschlossen – unterstützt durch das Auswärtige Amt Deutschlands. Das Projekt stärkt die Stimme der Ukraine in Europa, setzt sich für die Fortführung der Anti-Korruptionsreformen ein und fördert den Dialog zwischen ukrainischen und europäischen Institutionen über Integrität und Verantwortlichkeit.



Mattia Nelles und  Martyna Boguslavets  während einer Advocacy-Reise nach Kopenhagen, September 2025
Mattia Nelles und Martyna Boguslavets während einer Advocacy-Reise nach Kopenhagen, September 2025

Martyna, das Projekt zielt darauf ab, die erfolgreichen Anti-Korruptionsreformen der Ukraine fortzusetzen. Von welchen Erfolgen sprechen wir konkret? Wie hat sich die Ukraine seit der Revolution der Würde verändert?


Martyna Boguslavets (MB): Die Transformation der Ukraine im Bereich der Korruptionsbekämpfung begann tatsächlich nach der Revolution der Würde im Jahr 2014. Sie wurde durch den starken öffentlichen Wunsch nach Veränderung, die aktive Haltung der Zivilgesellschaft sowie die klaren Erwartungen unserer internationalen Partner und Geldgeber vorangetrieben.


In der Folge entstanden unabhängige Anti-Korruptionsinstitutionen – die Nationale Agentur zur Korruptionsprävention (NACP), das Nationale Anti-Korruptionsbüro der Ukraine (NABU), die Spezialisierte Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) und später das Hohe Anti-Korruptionsgericht (HACC). Diese Institutionen wurden zu Eckpfeilern der Reformagenda des Landes und zählen zu seinen größten Errungenschaften.

Die Unabhängigkeit dieser Institutionen war eine der Bedingungen für internationale Finanzhilfen und politische Unterstützung seitens der EU, des Internationalen Währungsfonds und der US-Regierung. 2023 wurde sie Teil der Auflagen im Rahmen des Ukraine-Facility-Plans der EU, und nun ist sie eine der zentralen Voraussetzungen für die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen im sogenannten „Fundamentalen Cluster“.


Doch selbst diese Erfolge müssen geschützt werden. 2025 gab es Versuche seitens von Regierung und Parlament, ihre Unabhängigkeit zu schwächen. Der Schutz dieser Institutionen ist heute sowohl eine der größten Herausforderungen als auch eine der wichtigsten Errungenschaften der Ukraine.


Mattia, Sie haben begonnen, sich während der Revolution der Würde auf die Ukraine zu konzentrieren. Wie sehen Sie den Fortschritt des Landes in den letzten zehn Jahren?


Mattia Nelles (MN):  Als Janukowytsch floh, war die Ukraine fast bankrott und wurde wie ein Mafia-Staat regiert. Die Revolution der Würde hat alles verändert – die Menschen forderten Gerechtigkeit und ein Ende der Straflosigkeit. Seitdem haben die Zivilgesellschaft und internationale Partner enorme Fortschritte ermöglicht.


Die Gründung unabhängiger Institutionen – NACP, NABU, SAPO und später des Hohen Anti-Korruptionsgerichts – war ein historischer Durchbruch. Diese „Inseln der Integrität“ wurden besonders nach der russischen Vollinvasion wirklich wirksam: Es gibt mehr Ermittlungen und Verurteilungen als je zuvor. Darüber hinaus haben Reformen wie das System der elektronischen Vermögenserklärungen für Beamte und das E-Beschaffungssystem „Prozorro“ für mehr Transparenz gesorgt und dem Staat Milliarden eingespart.


Natürlich existiert Korruption weiterhin – aber die Ukraine von heute ist nicht mehr die Ukraine von 2014. Die Menschen bleiben in Umfragen zwar pessimistisch, was den Kampf gegen Korruption betrifft, doch die Realität zeigt Fortschritt: Während 2015 noch rund 70 % der Befragten angaben, persönlich mit Korruption konfrontiert gewesen zu sein (laut einer Studie des Kyiv International Institute of Sociology), sind es heute nur noch etwa 20 % (laut einer Erhebung der NACP).


Wie würden Sie den aktuellen Stand der Anti-Korruptionsreformen beschreiben? Was sind die nächsten Schritte über die Verteidigung des Erreichten hinaus?


MN: Ich würde sagen, wir haben zwei Ziele – ein defensives und ein offensives. Das defensive Ziel ist, die Unabhängigkeit der bestehenden Anti-Korruptionsinstitutionen zu schützen, die sich mit Korruption auf höchster Ebene befassen. Gleichzeitig müssen wir weitergehen: NABU und SAPO brauchen bessere Instrumente – etwa Zugang zu Überwachungsmaßnahmen und eigene forensische Kapazitäten. Kleine Schritte wie diese können einen großen Unterschied machen.


Mattia Nelles bei der Experteneröffnung der COSAC-Initiative, Berlin 2025 (Foto: Pavel Sepi).
Mattia Nelles bei der Experteneröffnung der COSAC-Initiative, Berlin 2025 (Foto: Pavel Sepi).

Das offensive Ziel ist, diese Inseln der Integrität auszuweiten – also dieselbe Professionalität und Unabhängigkeit auch in andere Behörden wie das Wirtschaftssicherheitsbüro, den Zoll und den Steuerdienst zu bringen. Das ist entscheidend, wenn die Ukraine wirklich EU-Standards erfüllen will.


MB: Ganz genau. Eine der größten Herausforderungen für NABU ist das Fehlen einer eigenen unabhängigen forensischen Einrichtung. Derzeit arbeiten mehrere Gutachterinstitutionen unter dem Justizministerium, dem Innenministerium und dem Sicherheitsdienst der Ukraine – und sie neigen dazu, Verfahren zu verzögern oder politisch zu beeinflussen. Diese Abhängigkeit behindert Ermittlungen und schafft Interessenkonflikte. Deshalb ist die Schaffung einer eigenen forensischen Einrichtung für NABU entscheidend – und sollte zu einer klaren Anforderung internationaler Partner und Teil der EU-Integrationsagenda werden.


Im Rahmen der COSAC-Initiative konzentriert sich MEZHA auf die Nationale Polizei, das Büro für Wirtschaftssicherheit und den Zoll. Warum gerade diese Institutionen?


Martyna Boguslavets bei der Experteneröffnung der COSAC-Initiative in Berlin, Juni 2025 (Foto: Pavlo Sepi)
Martyna Boguslavets bei der Experteneröffnung der COSAC-Initiative in Berlin, Juni 2025 (Foto: Pavlo Sepi)

MB: Der entscheidende Punkt ist, dass NABU nur etwa 6 % aller Korruptionsfälle in der Ukraine bearbeitet – es geht dabei vor allem um hochrangige Beamte. Doch wenn die Menschen über Korruption sprechen, meinen sie viel mehr: alltägliche Bestechung, Veruntreuung, Steuerdelikte – all das, was das tägliche Leben betrifft. Rund 70 % aller Korruptionsfälle werden tatsächlich von der Nationalen Polizei untersucht, nicht von NABU. Deshalb ist eine umfassende Reform aller Strafverfolgungsbehörden genauso wichtig wie der Schutz der Unabhängigkeit von NABU und SAPO.



Jede dieser Institutionen befindet sich in einem anderen Stadium der Reform – daher verfolgen wir unterschiedliche Ziele. Bei der Nationalen Polizei arbeiten wir an einem Gesetz, das transparente Auswahlverfahren für Führungspositionen einführt. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde bereits registriert, und wir haben mit Regierung und Experten einen Runden Tisch zu möglichen Änderungen abgehalten.


Im Zoll gibt es das Gesetz bereits, und das Auswahlverfahren hat begonnen. Unsere Aufgabe besteht nun darin, den Prozess zu überwachen und Integritätsprüfungen durchzuführen – so wie wir es auch beim Büro für Wirtschaftssicherheit getan haben. Dort steht nun die enorme Herausforderung bevor, über 1.200 Mitarbeitende in nur 18 Monaten neu zu qualifizieren. Unser Team wurde eingeladen, dem zivilgesellschaftlichen Aufsichtsgremium beizutreten, um Transparenz und Integrität während dieses Prozesses sicherzustellen.


Warum ist das über die Ukraine hinaus wichtig? Wie sehen internationale Partner diese Reformen?


MN: Diese Entwicklungen zu verfolgen ist entscheidend, denn westliche Unterstützung hängt von Vertrauen ab – und Korruption untergräbt dieses Vertrauen, möglicherweise sogar bei der militärischen Hilfe.

Korruptionsprävention im Verteidigungssektor ist wichtig, aber es geht um weit mehr: um Transparenz im gesamten Staat. Kurz gesagt: Es gibt keinen Weg in die EU ohne echten Fortschritt bei Integrität und Rechenschaft.


Beim Deutsch-Ukrainischen Büro helfen wir westlichen, insbesondere deutschen und europäischen Entscheidungsträgern zu verstehen, dass diese Reformen von den Ukrainerinnen und Ukrainern selbst vorangetrieben werden. Die Zivilgesellschaft fordert sie – unsere Aufgabe ist es, diese Stimme zu verstärken und sicherzustellen, dass westliche Hilfe an klare Anti-Korruptionsverpflichtungen geknüpft bleibt. Wir nennen das bedingungslose Unterstützung im Krieg, aber an Reformen gebundene Hilfe beim Wiederaufbau.


Der Sommer in der Ukraine war turbulent – Aktivistinnen und Aktivisten gingen im ganzen Land auf die Straße, um die Unabhängigkeit der Anti-Korruptionsinstitutionen zu verteidigen. Wie wurde das im Ausland wahrgenommen? Hat es das Vertrauen in die Ukraine als Partner beeinträchtigt?


MN: Diese Angriffe haben der politischen Führung der Ukraine zweifellos geschadet – sowohl im eigenen Land als auch im Westen. Sie zeigten, dass die Regierung bereit war, mit der Unabhängigkeit der Institutionen zu spielen – sie hatte jedoch die Reaktion unterschätzt. Die starke Gegenwehr der Ukrainerinnen und Ukrainer sowie ihrer Partner machte deutlich: Ein Rückschritt wird nicht akzeptiert. Das Vertrauen wurde erschüttert – und nur konkrete Taten können es wiederherstellen.


MB: Leider war das nur der Anfang. Nach den Protesten verlagerte die Regierung ihre Strategie auf stillere, taktischere Methoden – sie nutzt unreformierte Behörden, bürokratische Verzögerungen und sogar fingierte Verfahren, um NABU und SAPO von innen unter Druck zu setzen. Es geschieht langsamer und weniger sichtbar, ist aber ebenso gefährlich.


MN: Ja, es ist ein „Tod durch tausend Schnitte“. Diffamierungskampagnen, problematische Gesetzentwürfe, Druck durch Strafverfolgungsbehörden – lauter kleine Schritte, die sich summieren. Deshalb müssen Zivilgesellschaft und westliche Partner wachsam bleiben und frühzeitig reagieren.



Partner besprechen die Ergebnisse der Treffen mit Entscheidungsträgern in Kopenhagen, September 2025
Partner besprechen die Ergebnisse der Treffen mit Entscheidungsträgern in Kopenhagen, September 2025

Da sich das Engagement der USA verändert hat – wie können die EU und ihre Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, die Reformen am besten unterstützen?


MN:  Das alte Motto „Geld jetzt, Reformen später“ funktioniert nicht mehr. Die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine zeigen deutlich, dass stärkere Kontrolle notwendig ist. Wir brauchen frühzeitige und konsequente Aufsicht – eben jene Haltung der „tough love“. Ziel ist es nicht, zu bestrafen, sondern vorzubeugen: rechtzeitig zu handeln, bevor Vertrauen und Unterstützung gefährdet sind.


Martyna, welche Art von Unterstützung ist für die Ukraine derzeit am wertvollsten – politisch, finanziell oder technisch?


MB: Die Eröffnung der EU-Verhandlungskapitel wäre ein großer Schritt – sie würde uns von Diskussionen zu konkreten Zeitplänen und Bedingungen bringen. Die EU sollte jetzt eine konsequentere, forderndere Rolle einnehmen als früher die USA und Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung zur klaren Bedingung für finanzielle Unterstützung machen.


Und schließlich braucht die Ukraine dringend mehr Unterstützung für unabhängige Watchdogs. Es gibt nur noch rund zehn wirklich unabhängige Anti-Korruptions-NGOs, und sie kämpfen ums Überleben. Sichtbare politische und finanzielle Unterstützung aus Brüssel und den Mitgliedstaaten ist entscheidend – sie zeigt, dass Europa fest an der Seite derer steht, die Tag für Tag für Integrität kämpfen.


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